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Henry hielt sich am Griff des Koffers fest. Er sah nach der Sonne, die durch die Lücken im dichten Dach der Pinie blitzte. Darüber – der Himmel. Lichtes, helles Blau, das alle Welt zu versöhnen schien. Henrys Finger fanden wie zufällig den Stamm, strichen über die Rinde, bevor sie sich hineinkrallten. Die Beine gaben nach, und seine Augen suchten unbewusst nach einer Sitzgelegenheit. Sie fanden die Bank auf der Wiese gegenüber. Seine Muskeln zuckten, als sähen sie eine Notwendigkeit, die er nicht akzeptieren wollte. Nein. Er straffte den Rücken. Autorität und Stärke ausstrahlen. Sein Blick streifte immer wieder die schmale Einfahrt und die vereinzelten Autos, die sie befuhren, um Gepäck und Patienten ein- und auszuladen. Er biss sich auf die Lippen, bemüht Atem zu schöpfen und den Schmerz in seinen Beinen wegzudrücken. Der Geruch von Harz touchierte ihn, während sein Oberkörper Halt am Stamm der alten Pinie fand. Minutenlang harrte er aus, die Bank wie ein Mahnmal fixierend. Dann hielt der silberne SUV wenige Meter vor ihm. 
»Henry, mein Freund...«, Michael schob sich durch die halb geöffnete Fahrertür und kam auf ihn zu, »dein Anruf hat mich überrascht. Die Reha war doch noch vier Wochen länger geplant. Konntest du die Ärzte überzeugen, dich bereits zu entlassen?«
Der Unfallchirurg streckte die Hand nach dem Koffer, und Henry entließ den Trolley aus seinem Griff, als er sich von der Pinie abstieß. Er schätzte die Entfernung bis zur Beifahrerseite, während er Michael beim Verladen des Gepäcks beobachtete. Der Agent spürte, er schwankte. Er fluchte innerlich. Die Entscheidung, seine stationäre Therapie abzubrechen, hatte er impulsiv und unüberlegt getroffen, doch er war nicht bereit, sie zu revidieren. Er trat einen Schritt vor, doch beließ er seine Hand am Pinienstamm, sodass die Fingerspitzen gerade noch den Baum berührten. Er hörte, wie die Kofferraumtür zugeschlagen wurde, aber seine Augen folgten dem Geräusch nicht. Henry starrte ins Gras zu seinen Füßen, bemüht, jedem der dünnen Halme Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl sie sich unwiderruflich seinem Blick entzogen und verschwammen. 
»Wo ist dein Stock?« Michaels Füße erschienen in Henrys Sichtfeld, und er zwang sich, hochzusehen. Schwindelig. Verdammt.
»Brauch ich nicht«, presste er hervor und richtete sich auf. Während er die kühle Luft des sich anbahnenden Frühlings tief in seine Lungen transportierte, wurde der Freund, der sich vor ihm aufgebaut hatte, allmählich klar vor seinen Augen. 
»Sieht für mich nicht so aus.« Michael hatte eine Augenbraue gehoben und verlagerte das Gewicht von einem auf das andere Bein, während er Henry eingehend musterte. Der Unfallchirurg schien darüber nachzugrübeln, wie er reagieren sollte. 
»Bring mich einfach nach Hause.« Der Agent ballte die Fäuste. Er musste jetzt zu diesem Wagen, in eine sitzende Position. Wenn er hier umkippte, würden sie ihn zurückbringen. In die Klinik, das mittlerweile verhasste Zimmer, und zu den Gesprächen, die er nicht mehr bereit war, zu führen. Die Erinnerungen an Amys gewaltsamen Tod kamen Stück für Stück wieder. Schlichen sich oft wie Diebe in der Nacht in sein Leben, während sie ihn ein anderes Mal unvermittelt überkamen. Unangemeldet, unliebsamen Gästen gleich. Die Traumatherapie, an der Henry seit Monaten als Teil der Rehamaßnahme teilnehmen musste, war noch nicht beendet. Ebenso wenig wie die Physiotherapie. Und doch befand er sich hier. An dieser Pinie vor dem Eingang. Um diesen Gebäudekomplex, die festen Strukturen eines Alltags, in dem er in den letzten Monaten nie angekommen war, hinter sich zu lassen. Er war therapiemüde. Er war müde. Einfach nur müde.

»Du willst nach Hause?« Michael schien sich gefangen zu haben und suchte zweifelnd seinen Blick. Henry musterte den Freund. Diesen mittlerweile fast vollständig ergrauten Arzt aus Greene, der sich nach Amys Tod um ihn gekümmert und die Beisetzung organisiert hatte. Der Agent schluckte, als ihn das warme Gefühl von freundschaftlicher Liebe erfasste. Wie eine Welle, die das Ufer sanft umspült. Doch es verschwand, kam nicht zurück. Die nächste Welle blieb aus, als würde sie von einer unsichtbaren Mauer aufgehalten.
»Wohin denn sonst?«, knurrte Henry. »Ich werde die Therapie ambulant weiterführen. Und jetzt möchte ich gerne hier weg.«
Michael nickte schweigend, ergriff Henry am Arm, ohne dessen Erlaubnis einzuholen, und führte ihn zum Fahrzeug. Der Agent bemühte sich, die verstohlenen Blicke des Arztes zu ignorieren.
»Du könntest erstmal bei mir wohnen«, hörte er Michael sagen. Der Freund schlug die Beifahrertür zu und blieb einen Augenblick neben dem Wagen stehen, bevor er zur Fahrerseite weiterging. Erwartete er keine Antwort? Oder wollte er ihm Zeit geben, darüber nachzudenken...
Henry schüttelte sachte den Kopf, während er endlich die Beine ausstreckte und sich zurechtrückte. Nicht notwendig, dieses Angebot auch nur in Erwägung zu ziehen. Er wollte nach Hause. Das stand außer Frage.
Er wartete, bis Michael sich hinter das Steuer geklemmt hatte und den Wagen startete.
»Danke für das Angebot, aber ich möchte meine Ruhe. Lass mich bitte zu Hause raus.«
Er hörte seinen Freund Luft durch die Zähne ziehen. Nein, bitte keine Diskussionen. Henrys Blick erhaschte die Klinik, die jenseits der Seitenscheibe aus seinem Sichtfeld verschwand. Um ein Haar wäre ein erleichterter Seufzer aus seiner Kehle entkommen. 
Sie legten die Strecke schweigend zurück. Fünfunddreißig Minuten. Henry sah auf die Uhr, als sie in die Mountain Road einbogen. 
»Sicher?« Michael Stimme durchbrach die Stille und seine Gedanken.
Der Agent fröstelte. »Ja, natürlich.«

Als er die schwere Eichentür schloss, und sein Blick auf das runde Milchglasfenster fiel, überkam ihn der Impuls zu flüchten. Henry blieb stehen, mit dem Rücken zum Flur. Seine Hand verharrte auf dem verchromten Türknauf, und sein ganzer Körper schien zu vibrieren. 
Verdammt! Stell dich nicht so an! Dreh dich einfach um.
Er schnappte nach Luft. Ein schwerer Geruch, der nicht hierher gehörte, umfing ihn. Das war nicht richtig. Dies war nicht sein Zuhause.  
Doch, Henry. Natürlich. Direkt hinter dir ist der lange Flur. Die Treppe nach oben zum Schlafzimmer. Und links von dir das Wohnzimmer. Da wo...
Die verchromte Klinke erwärmte sich in seiner Hand. Die Muskeln in seinem Oberarm begannen zu schmerzen.
Es ist dasselbe Haus. Dieselbe kleine Terrasse, auf der ihr morgens oft gefrühstückt habt. 
Nur Amy...Amy war nicht mehr hier.

Als jemand klopfte, fuhr Henry zusammen.
»Ist alles okay? Bist du in Ordnung?«, kam es gedämpft durch die Tür.
Der Agent schob den Koffer beiseite, öffnete und spähte nach draußen. »Michael? Du bist noch hier?«
Der Unfallchirurg, sein alter Freund, nickte. Henry schob die Tür weit auf und blinzelte. Die Sonne erhellte den Flur. Schien die Dunkelheit zu vertreiben, eine Schneise zu schlagen und einen Pfad zu öffnen, den er zu gehen vermochte. Als würde sie ein Gegengewicht bilden – zu seinen finsteren Gedanken und der Angst, die ihn erdrückte. Sie...und der Mann, der sich im Licht der Nachmittagssonne vor ihm im Eingangsbereich befand. Der trotz Henrys Ablehnung geblieben war.
»Ich war schon auf dem Weg zum Wagen«, Michael hob entschuldigend die Schultern. Er nahm seine Brille ab, tupfte sich mit einem Stofftaschentuch eilig über Stirn und Augen und ließ es in der Brusttasche seines karierten Hemds verschwinden. 
Henry löste die Hand vom Knauf und ging beiseite. 
»Darf ich?«, fragte Michael und trat zögernd einen Schritt näher.
»Ja. Komm ruhig. Ich...«, der Agent lachte bitter, »ich bin noch nicht weiter als bis zur Tür gekommen.«
Er ließ den Freund eintreten, doch vermied es, sich umzudrehen. Erinnerungen der letzten Jahre und Jahrzehnte wetteiferten mit den wenigen Bruchstücken der schicksalhaften Nacht. Brachten alles in ihm durcheinander und wühlten ihn auf. Er hatte nach Hause gewollt. Und er hatte vorhergesehen, dass seine Rückkehr nicht leicht werden würde. Aber damit hatte er nicht gerechnet. Das Haus schien wie ein lebendiges, dunkles Wesen seine Arme auszustrecken und ihm jeden Funken Lebenswillen zu entziehen. Er schauderte.
Michael hatte die Haustür offengelassen. Die Dunkelheit war nicht zurückgekehrt. »Wir haben saubergemacht. Damals schon. Kurz nachdem...«, der Arzt trat hinzu und seine Hand fand Henrys Arm, berührte ihn sacht. »Den Teppich und einen der Sessel haben wir entsorgen müssen. Es sieht also alles etwas anders aus, aber die«, er räusperte sich, »die Spuren sind beseitigt.«
Henry nickte, und sein Blick flackerte für einen winzigen Moment in das Innere des Hauses. Er spürte, wie Michaels Berührung fester wurde.
»Du musst nicht hierbleiben, mein Freund. Es wäre kein Zeichen von Schwäche, wenn du dir noch Zeit gibst. Du weißt, ich habe jede Menge Platz, seit ich allein bin. Wir würden uns nicht dauernd über die Füße laufen, falls du deine Ruhe brauchst.«
Der Agent ließ eine Antwort ausbleiben und drehte sich in den Flur. Er sah hinauf zur Treppe, an deren Ende die Galerie lag und die Tür zum Schlafzimmer. Schließlich spähte er an Michael vorbei zum Wohnzimmer.
»Nein, schon in Ordnung. Ich komme klar. Ich...brauchte nur einen Moment, um anzukommen. Du kannst ruhig fahren.«
Henry bemühte sich, zu lächeln. Freundlich, aber drängend. Unerwartet hatte er das Bedürfnis, allein zu sein. Genau hier...in diesem, seinem Haus.

Sein Freund hatte diese Entscheidung nicht diskutiert und sich zügig verabschiedet. Und er war Michael dankbar dafür. Die Eichentür fiel ins Schloss und hinterließ Stille. Laute, erdrückende Stille, die sich gleichsam richtig und falsch anfühlte. Henry zwang sich, zu gehen. Er zählte die Schritte bis zur offenen Tür des Wohnzimmers, um sich abzulenken.
Fünf, sechs...
Er lehnte sich an den Rahmen und blickte auf. Der Kamin, das dunkelgraue Sofa. Er erinnerte sich. Ein Sessel fehlte, ebenso wie der helle Hochfloor-Teppich vor dem Tisch. Die Dielen knarzten, als er sich in Bewegung setzte. Er fixierte das Bild auf dem Kaminsims, zwischen den beiden Porzellankatzen, die sie damals in Mexiko auf einem kleinen Basar erstanden hatten. Das Foto von Amy und ihm mit den Sombrerohüten passte dazu. Er schmunzelte.
Seine Finger glitten am Sims entlang, wischten vorsichtig den Staub vom Glas, bevor er den Bilderrahmen ergriff und neben dem Kamin zu Boden sank. 
Ein Schluchzen entkam seiner Kehle.
Ich bin wieder hier, Amy. Ich bin wieder hier.

 

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